Kinderbücher aus einer Schublade

Kein Spiegel des Alltags: In Kinderbüchern mangelt es oft an Vielfältigkeit.


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Amani ist sechs Jahre alt und kommt bald in die Schule. Schon früh ist ihr aufgefallen, dass ihr Vater eine dunkle Hautfarbe hat und ihre Mutter eine helle. „Mit zwei oder drei Jahren hat sie zum ersten Mal gesagt, dass sie so aussehen wolle wie ich und dass sie sich nicht schön finde“, erinnert sich Amanis Mutter Esther Kalunge. Von Anfang an wollte sie mit ihrer Tochter Bücher anschauen, in denen sich Amani wiederfinden würde – und wurde immer wieder enttäuscht: „Wir haben nie ein Buch gefunden, wo mal ein schwarzes Kind die Hauptrolle gespielt hat.“

Mehr als jedes dritte Kind in Deutschland hat einen Migrationshintergrund, doch Schätzungen zufolge kommen in 95 Prozent der hierzulande erschienenen Kinderbücher keine People of Color, also nicht weiße Menschen, vor.

Darstellung einer heilen Welt 

Lars Burghardt forscht an der Universität Bamberg unter anderem zu Geschlechterdarstellungen in Bilderbüchern. „Vorrangig wird eine vermeintlich heile Welt aus Vater, Mutter, Kind gezeigt“, so Burghardt. Bei einer Untersuchung von 6000 Figuren aus Bilderbüchern haben er und sein Team keine Alleinerziehenden oder Menschen mit Behinderung gefunden. Und das, obwohl fast jeder zehnte Deutsche mit einer anerkannten Schwerbehinderung lebt, in rund drei Millionen Familien nur ein Elternteil für die Kinder sorgt und es in etwa 14?000 Familien zwei Mütter oder zwei Väter gibt.

Gerade für Kinder haben Figuren aus Büchern Vorbildcharakter, mit denen sie sich identifizieren können. Im besten Fall zeigen diese Möglichkeiten auf, was die Leser alles sein können oder vielleicht auch gar nicht sein wollen. Im schlechtesten Fall erreichen sie ihre Leser überhaupt nicht, weil die sich nicht angesprochen fühlen.

„Viele Jahre lang haben blond gelockte Kinder die Hauptrolle in Büchern gespielt“, bestätigt Sabine Bonewitz von der Stiftung Lesen, deren Ziel es ist, Kinder und ihre Eltern an Bücher heranzuführen. „Wir finden es wichtig, dass die gesellschaftliche Vielfalt sich auch in Kinderbüchern widerspiegelt.“ Zugleich nimmt sie Veränderungen am Markt wahr: „Da ist Bewegung drin, und da passieren auch neue Sachen.“ Oda Stockmann schult Einrichtungen und Unternehmen zu den Themen Alltagsrassismus, vorurteilsbewusstes Denken und Mechanismen von Diskriminierung. Als Mutter eines dunkelhäutigen Sohnes achtet auch sie auf eine ausgewogene Auswahl an Literatur: „Für mich sind Kinderbücher dann gut, wenn mein Kind unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht, Orientierung und anderen Abweichungen von der sogenannten Norm Held oder Heldin sein kann – in Wort und in Bild.“ Braucht das geflüchtete Kind in der Geschichte Hilfe, um die deutsche Sprache zu lernen? Oder wäre es nicht auch möglich, dass andere ihm dabei helfen, das verlorene Kaninchen zu finden? Gerade die Bücher für Kinder im ersten Lesealter bezeichnet Stockmann als vorwiegend eurozentristisch.

Im Internet lassen sich Bloggerinnen und Aktivisten regelmäßig über deutsche Kinderbuchklassiker wie „Conni“ und „Jim Knopf“ aus, die Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlagen listet auf ihrer Internetseite 20 ausgewählte Buchtitel auf, mit denen Einrichtungen für Kinder Themen wie Anderssein, Umgang mit Eifersucht, Ausgrenzung oder Tod erarbeiten können. Pinkstinks, eine Protest- und Bildungsorganisation gegen Sexismus und Homophobie, empfiehlt immerhin 50 Kinderbücher, die nach Meinung der Verfasser helfen sollen, Kinder zu stärken, und für mehr Toleranz werben.

Esther Kalunge beobachtet bei ihrer Tochter, wie wichtig ihr das Thema ist. „Je älter sie wurde, desto mehr hat sie sich selbst gesucht in Büchern.“ Um dann festzustellen: „Eine Prinzessin kann nicht schwarz sein, und keine Fee sieht so aus wie ich.“ Bei ihrer Suche nach geeigneter Literatur, die den Lebensalltag ihrer Tochter widerspiegelt, wird die Mutter vorwiegend bei einem englischen Verlag fündig und beschließt, selbst aktiv zu werden.

Kulkids greift genau dort an 

Zusammen mit ihrem Mann Thomas gründet sie Kulkids, ein kleines Unternehmen, das unter anderem Spielkisten mit einer Auswahl an vorurteilsbewussten Kinderspielzeugen vertreibt. Mithilfe eines Crowdfundings schaffen die beiden es zudem, ihr Herzensprojekt zu realisieren: das Klix-Book, eine Art Puzzlebilderbuch, bei dem Bilder sowie Textsprache beliebig ausgetauscht werden können. Jedes Buch enthält neben Deutsch eine weitere von aktuell zehn Sprachen sowie zwei Varianten der Charaktere: „Kinder sind damit nicht nur Leser, sondern gleichzeitig Baumeister und Erzähler.“

Von Alena Hecker